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Laudatio auf Gesine Oltmanns

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Ina Rumiantseva, Razam e.V.

Anlässlich der Verleihung des Ehrenbürgerinnenrechts an Gesine Oltmanns am 15. Januar 2025 hielt Ina Rumiantseva die Laudatio.

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jung,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmer,
meine Damen und Herren,
liebe Gesine,

es ist mir eine große Ehre, dass ich heute die Laudatio auf dich, liebe Gesine, halten darf. Zunächst aber möchte ich dir von ganzem Herzen gratulieren zur Erlangung des Ehrenbürgerinnenrechts, der höchsten Auszeichnung der Stadt Leipzig. Du bist die zweite Frau in fast zweihundert Jahren, der diese Ehre zuteilwird, und stehst in direkter Nachfolge der Holocaust-Überlebenden Channa Gildoni. Was für ein kraftvolles Zeichen in dieser nicht einfachen Zeit!

Ich glaube, das Erste, was du, liebe Gesine, mir nach der Nachricht von der Auszeichnung erzählt hast, war ein semantisches Detail, das mir vielleicht gar nicht aufgefallen wäre: Dir wird heute nicht die „EhrenbürgerinnenWÜRDE“, sondern das „EhrenbürgerinnenRECHT“ verliehen – so steht es im Amtsblatt der Stadt Leipzig. Und dieser Unterschied hat dich besonders gefreut: Denn eine „EhrenbürgerinnenWÜRDE“ ist eine Anerkennung zurückliegender Lebensleistungen. Sie verpflichtet jedoch nicht notwendigerweise zu etwas. Das „EhrenbürgerinneninnenRECHT“ hingegen betont Verantwortung und gesellschaftliche Teilhabe. Es ist eine Aufforderung, aktiv zu bleiben, immer wieder unter Beweis zu stellen, dass die Werte, für die du stehst, auch in Gegenwart und Zukunft gelebt werden müssen. Es ist, sozusagen, eine Verpflichtung sich weiter einzumischen.Und das hast du auch im Vorfeld des heutigen Abends getan. Oberbürgermeister Jung hat es eben bereits angedeutet: Es war dein ausdrücklicher Wunsch, diesen Abend auch zu nutzen, um an die politischen Gefangenen in Belarus zu erinnern.

Meine Damen und Herren, es gibt viele Themen, die Gesine Oltmanns umtreiben:

Der mörderische Krieg gegen die Ukraine.

Die zunehmende rechte Radikalisierung von Teilen der deutschen Bevölkerung, die Sorge um das Erbe von 1989 und den inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaft, aber auch besorgniserregende Fehlentwicklungen in der Exekutive und Defizite in der praktischen Umsetzung der Rechtsstaatlichkeit.

Und schließlich: das Schicksal der Menschen in Belarus. Diese Menschen haben uns 2020 mit ihrem friedlichen und kreativen Protest begeistert. Heute leiden sie, ungesehen und ungehört von der Welt, unter den schlimmsten Repressionen seit der Stalinzeit. Die größte übersehene Katastrophe in Europa.

Gesine Oltmanns hat seit 2020 maßgeblich dazu beigetragen, dass Belarus zu einem wichtigen Thema in Leipzig wurde. Sie organisierte Kundgebungen, Mahnwachen und eine Filmvorführung auf dem Nikolaikirchhof. Die von ihr mitbegründete Stiftung Friedliche Revolution lud Aktivist*innen der jungen belarusischen Demokratiebewegung zur „Revolutionale“ ein, dem politischen Festival für Veränderung. Gesine Oltmanns fragte bei unserem Verein immer wieder nach Material und Ideen für all diese Aktionen, und als ich befürchtete, meine Anregungen könnten vielleicht schon zu viel des Guten sein, schrieb sie: „Bitte, bitte, lassen Sie uns nicht in Ruhe!“ Am 9. Oktober 2021 durfte ich auf Vermittlung von Gesine Oltmanns beim Friedensgebet in der Nikolaikirche sprechen. Übrigens direkt nach der Rede zur Demokratie von Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko, in der er mit starken Worten von der Notwendigkeit einer im wahrsten Sinne des Wortes wehrhaften Demokratie sprach. Leider haben zu wenige damals den Ernst der Lage verstanden.

Aber warum Belarus? Einigen hier im Saal muss ich es sicher nicht erklären, sie haben die Begründung dazu am 4. September 2020 selbst gegeben. Wolf Biermann, Stephan Bickhardt, Gisela Kallenbach und etliche weitere ehemalige Bürgerrechtler*innen haben an diesem Tag gemeinsam mit Gesine Oltmanns eine „öffentliche Grußadresse an die mutigen Demonstrant*innen in Belarus“ veröffentlicht. Sie beginnt mit den Worten: „Die Bilder und Nachrichten, die uns nun schon seit einigen Wochen aus Belarus erreichen, erinnern uns stark an das Jahr 1989. Sie rufen Erlebnisse und Erfahrungen wach.“

Die „Erlebnisse und Erfahrungen“ von denen da die Rede ist, sind ganz persönlicher Natur, für jeden und jede der Unterzeichnenden. Auch für Gesine Oltmanns. Heute, an diesem 15. Januar, umso mehr. Um das zu verstehen, wollen wir einen Blick auf das Leben von Gesine Oltmanns werfen, auf all das, was vor dem 4. September 1989 passierte, dem Tag, an dem Gesine Oltmanns und Kathrin Hattenhauer ihr Transparent auf dem Nikolaikirchof hochhielten und die Geschichte ihren Lauf nahm.

Geboren wurde Gesine Oltmanns 1965 im oberen Erzgebirge als 6. Kind der Pfarrerehepaares Brigitte und Günther Oltmanns. Die ersten Jahre verbringt sie in Deutschneudorf, an der Grenze zu Böhmen. Die junge Pfarrfamilie war wenige Jahre zuvor hierher „notversetzt“ worden. Denn die Eltern, gebürtige Leipziger, hatten sich stark gemacht im Konflikt um Jugendweihe und Konfirmation und die Frage der Evangelisation der Studentengemeinde. Doch auch hier, im abgelegensten Winkel der Republik, bleibt der Gang der Geschichte der Familie nicht verborgen: 1968 rollen sowjetische Panzer durch das beschauliche Tal unterhalb von Deutschneudorf gen Prag und wecken schreckliche Erinnerungen an den Krieg. Gesine Oltmanns ist da erst 3 Jahre alt, aber all diese frühen Erlebnisse hinterlassen ihre Spuren; sie werden Teil der Familienerzählung der Oltmanns.1969 dann der Umzug nach Possendorf bei Dresden, wo Gesine eine „schöne Kindheit im großen Pfarrgarten“ verbringt. Diese Zeit ist geprägt von Musik und politischen Gesprächen am Küchentisch, aber auch von Besuchen bei ihren älteren Geschwistern in Berlin, Leipzig und Dresden. Dann kommt das Jahr 1978: ihr ältester Bruder Eckhart wird in Ostberlin verhaftet, weil er das sogenannte SPIEGEL-Manifest an Freunde verteilt hatte. Er wird zu anderthalb Jahren Haft verurteilt. Gesine ist da 13 Jahre alt. Schmerzhaft erfährt sie, welch brutale Macht eine Diktatur über das eigene Schicksal ausüben kann.

Ab diesem Moment ist „politische Gefangenschaft“ für Gesine Oltmanns kein abstrakter Begriff mehr, sondern eine lebensprägende Erfahrung. Eckhart Oltmanns wird nach wenigen Monaten vom Westen freigekauft. Doch der Schmerz der Trennung bleibt. Am Ende dieses schicksalhaften Jahres 1978 zieht die Familie abermals um – nach Wechselburg im Muldental, in die tiefste Provinz. Gesine geht nun an die EOS „Friedrich Engels“, „das rote Kloster“, wie sie sagen. Die Musik wird noch wichtiger als zuvor, stundenlang übt Gesine an der Bratsche. Immerhin gibt es einen kleinen Jazzclub beim Rochlitzer Kulturbund. Und bald auch die „Grüne Zelle“, eine Ökogruppe, die Gesine mitbegründet. Außerdem ist es nach Leipzig nicht weit, diese „Oase der Kultur“. Am Freitagabend fährt sie also zu den Jazztagen in der Kongresshalle, verbringt danach eine klamme Nacht am Bahnhof im bereitstehenden Frühzug der Muldentalbahn, um Sonnabend früh pünktlich in der Schule zu sein.

Leipzig fasziniert sie: eine Stadt, in der Gesine sich ausprobieren darf, wo sie tief eintaucht in die oppositionellen Kreise. Dank ihrer Geschwister kennt sie bald aber auch die führenden Köpfe der Szene in Berlin und Dresden, trifft Schriftsteller, Künstler und Fotografen. Im kleinen Kosmos der DDR scheint sie so etwas wie eine Kosmopolitin zu sein.

Die Geschehnisse der Zeit prägen Gesine ganz unmittelbar: Das intellektuelle Ausbluten der DDR durch die Ausweisungen führender Intellektueller. Das erste Friedensforum in der Dresdner Kreuzkirche am 13. Februar 1982 – es ist die bis dato größte Veranstaltung der im Entstehen begriffenen Friedensbewegung in der DDR. Wochen später – die Nachricht vom Tod Robert Havemanns. Natürlich eckt Gesine in der Schule immer wieder an. Sie weigert sich, am Wehrkundeunterricht teilzunehmen, wird später abgemahnt wegen des Schwerter-zu-Pflugscharen-Aufnähers an ihrem Parka. Zum Abitur wird sie zugelassen, doch den ersehnten Studienplatz in Biologie verwehrt man ihr wiederholt. Sie zieht nun zu ihrem Bruder Dietrich nach Leipzig, schlägt sich mit Hilfsjobs durch, arbeitet bei der Volkssolidarität und darf im Akademischen Orchester Bratsche spielen. Vor allem aber kommt sie in Kontakt mit der Jungen Gemeinde in St. Nikolai bei Christian Führer. Hier lernt sie die Menschen kennen, die später zu ihren engsten Mitstreitern in der Oppositionsarbeit werden sollen: Uwe Schwabe, Udo Hartmann und viele andere.

Die 1980er sind „wild“: da ist die Jugendszene am Naschmarkt, die Punk-Szene im Mockauer Keller, die erste Hausbesetzung, private Lesekreise zensierter Literatur. Prägend dann der Olof-Palme-Marsch im Oktober 1987: dieses kurze Gefühl der Freiheit als sie mit ihren Plakaten von Ravensbrück nach Sachsenhausen laufen. Doch gleich darauf, im November 1987, die Razzia in der Umweltbibliothek in Berlin. „Von da ab war alles anders“, sagt Gesine. Die Sorge vor den um sich greifenden Repressionen wächst. Im Januar 1988 dann weitere Verhaftungen in Berlin. Jetzt steigt Gesine Oltmanns endgültig in die aktive politische Oppositionsarbeit ein, übernimmt das Kontakttelefon in Leipzig zu den inhaftierten Studierenden, organisiert Fürbittandachten und wird Sprecherin des Arbeitskreises Gerechtigkeit. Das erste Ordnungsverfahren wegen „Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit“ lässt nicht lange auf sich warten. „Zuführungen“, Vorladungen und Vernehmungen werden nun „üblich“. Doch die Aktionen der Gruppe werden nur umso zahlreicher: Flugblätter zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht, ein Schweigemarsch nach dem Friedensgebet in St. Nikolai, Protest gegen die Ceaucescu-Politik in Rumänien, eine Luftballonaktion gegen das Verbot sowjetischer Filme in der DDR. Das alles in nur einem Monat!

Und nun, meine Damen und Herren, nähern wir uns dem entscheidenden 15. Januar 1989, von dem ich anfangs schon sprach. Am 11. Januar 1989 beginnt Gesine Oltmanns gemeinsam mit ihren Mitstreitern, 5.000 Flugblätter an Leipziger Haushalte zu verteilen: sie rufen darin zu einer alternativen Gedenkdemonstration am 15. Januar auf, anlässlich der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Die Aktion ist übrigens ausdrücklich so geplant, dass man das offizielle Gedenken nicht stört. Im Flugblatt wird das verfassungsmäßig verankerte Recht auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Pressefreiheit eingefordert. Die Stasi bekommt Wind von der Aktion, nimmt 12 Mitglieder der Gruppe fest, fischt die Flugblätter mit Pinzetten aus den Briefkästen der Leipziger. Die Aktion findet trotzdem statt, etwa 500 Menschen finden sich ein. Fred Kowasch hält eine Rede, in der es nun nicht mehr nur um die allgemeinen Freiheitsrechte geht – sondern vor allem um die Freilassung der inhaftierten Freunde. Diese mutige Rede ist ein Zeichen, dass man sich nicht einschüchtern lässt; eine öffentliche Kampfansage, wie der ebenfalls festgenommene Uwe Schwabe später sagte. Unter den Festgenommenen ist auch Gesine Oltmanns. Rund zehn Jahre nach ihrem Bruder Eckhart sitzt sie nun selbst wegen ihrer politischen Aktivitäten in U-Haft.  Es sind zum Glück nur wenige Tage – bis zum 19. Januar werden alle Festgenommenen nach massivem öffentlichem Druck freigelassen. Selbst Hans-Dietrich Genscher hatte sich eingeschaltet. Die Ermittlungsverfahren werden schließlich eingestellt, zum großen Gram der Stasi, wie man später in den Akten lesen kann.

Heute gilt der 15. Januar als Beginn des Revolutionsjahrs 1989. Für Gesine Oltmanns war es der bis dahin einschneidendste Tag in ihrem gesamten politischen Aktivismus. An die erste Begegnung nach der Entlassung aus der Haft erinnert sich die Mutter so: Gesine sei ihr entgegengeschlurft und dann in ihre Arme gesunken, mit den Worten: „Ich dachte, man kann es aushalten.“ Aber dann solche Arme zu haben, die einen auffangen, das ist ganz wichtig, sagte Gesine Oltmanns später in einem Interview über diesen Moment.

Meine Damen und Herren, das ist es, was ich aus der Geschichte von Gesine Oltmanns mitgenommen habe, was mir erklärt, warum sie sich gewünscht hat, dass wir heute über die politischen Gefangenen in Belarus sprechen: Es braucht diese starken Arme, die einen auffangen. Denn es ist so leicht daher gesagt – „politischer Gefangener“. In Wahrheit aber ist es die Hölle, wenn wir von einem Land wie der DDR damals oder Belarus heute sprechen. Viele haben ein Leben lang mit den Folgen der Haft zu kämpfen, selbst wenn es nur ein paar Tage waren.

Die wenigsten von uns sind Helden, die ungebrochen Jahre der Schikanen wegstecken; die langen Winternächte im eisigen Karzer überstehen, bekleidet nur mit der dünnen Gefängniskluft. Nein, die meisten Menschen sind keine Helden und sollten es auch nicht sein. Denn nur schreckliche Zeiten rufen nach Helden, sagte mir einmal Irina Gruschewaja, eine enge Freundin, die 1989 mit ihrem Mann Gennadij die Stiftung „Den Kindern von Tschernobyl“ gründete und mehr als einer halben Million Kindern einen Erholungsaufenthalt im Ausland ermöglichte. Noch so eine „Heldin“, die keine Heldin sein will.

Es geht nicht um Helden. Es geht um Menschen.

Die allermeisten politischen Gefangenen in Belarus sind keine Politiker, nicht einmal Aktivist*innen im herkömmlichen Sinne, die sich auch nur ansatzweise auf die Risiken politischer Betätigung in einer Diktatur vorbereitet hätten. Es waren „ganz normale“ Menschen, die sich 2020 ihren Nachbarn anschlossen, denn man kann doch nicht in seiner Küche sitzen, wenn draußen Geschichte geschrieben wird. Lukaschenko hat den Schock der Bilder von 2020 bis heute nicht verwunden: als Hunderttausende durch die Straßen im ganzen Land zogen, weil sie ihn – den „Batsjka“ – nicht mehr ertrugen, mit all seinen Lügen, seinem primitiven Gehabe und vor allem der ungezügelten Gewalt seiner Schlägertruppen. Der „Batsjka“ begann ein nie gesehener Rachefeldzug gegen sein eigenes Volk. Zehntausende wurden seit 2020 festgenommen. Sie mussten Hausdurchsuchungen über sich ergehen lassen, bei denen die Polizei wie bei Schwerverbrechern in die Wohnungen eindringt, auch im Beisein kleiner Kinder. Mussten ihre „Schuld“ in „Reue-Videos“ beteuern. Wurden in Prozessen, die keine sind, zu teils absurd langen Haftstrafen verurteilt.

Inzwischen werden Sie übrigens im ganzen Land keinen unabhängigen Anwalt mehr finden, der Sie bei einem politischen Prozess vertreten würde. Denn dann würde er oder sie selbst riskieren, im Knast zu landen. Belarus ist zurück in der Zeit der totalen Repression. Der Anlass für eine Festnahme kann real oder erfunden sein. Oft einfach auch nur lächerlich: So wie im Fall einer 31-jährigen Schwangeren aus Minsk. Sie lebt seit einiger Zeit in Vilnius. Vor drei Tagen wurde sie bei der Einreise nach Belarus verhaftet. Ihr wird vorgeworfen, den Innenminister beleidigt zu haben – in einem Online-Kommentar im Herbst 2020.

Unterdessen steigt die Zahl der offiziell erfassten politischen Gefangenen unaufhörlich weiter. Seit 2020 wurden mehr als 2.600 erfasst, die Hälfte sitzt gerade in Haft. Mehr als 200 gelten als hochgradig gefährdet oder besonders schutzbedürftig, unter ihnen Schwerstkranke, Rentner, Minderjährige, kinderreiche Eltern und Behinderte. Die Spielarten der systematischen Schikanen, denen die „Politischen“ ausgesetzt sind, kann ich heute nur anreißen: von der mehrfachen Überbelegung der Zellen in der U-Haft– gern auch mit parasitengeplagten Insassen – bis zum gelben Aufnäher auf der Lagerkluft. Dieser gelbe Aufnäher zeigt den Aufsehern, dass man den Häftling besonders hart anpacken muss, und den Mitgefangenen, dass man ihn besser meidet. Und dann: die Streichung von Hofgängen und der wöchentlichen Dusche, die Einbehaltung von Päckchen und Briefen der Angehörigen. Das Verbot, Geld auf dem Gefängniskonto zu erhalten, um Lebensmittel in der kleinen Verkaufsstelle des Lagers zu kaufen. Denn der Lagerfraß ist ungesund und oft auch ungenießbar. Für kleinste „Vergehen“, wie Staub auf dem Nachttisch, immer wieder in den Karzer, tagelang.

Die schlimmste Form der Bestrafung, die den prominentesten Häftlingen vorbehalten zu sein scheint, ist das gewaltsame Verschwindenlassen, die sogenannte Incommunicado-Haft. Nach internationalem Recht gilt das als Folter und ist verboten. Die Häftlinge landen dann im Isolationstrakt. Kein Kontakt zu irgendjemandem, nicht zu Anwälten und Angehörigen, noch nicht einmal zu anderen Insassen. Kein Gespräch. Mit keiner Menschenseele. Allein in einer kleinen Betonzelle, in der die Pritsche morgens um 6 hochgeklappt wird und man sich bis abends um 10 nicht hinsetzen darf. Tage, Wochen, Monate, Jahre. Von einigen prominenten Inhaftierten haben wir seit knapp 2 Jahren überhaupt nichts mehr gehört. Wer einmal in die Fänge des Regimes gerät, weiß nicht ob und wann er lebend wieder nach Hause kommt. Denn selbst wenn die Haftzeit um ist, gibt es immer noch den berüchtigten Artikel 411, der bei „böswilligem Ungehorsam gegenüber der Lagerverwaltung“ verhängt werden kann. Der Insasse bekommt dann noch ein Jahr aufgebrummt, dann noch eins, und noch eins, und noch eins. Es gibt keine Beschränkung dafür.

Die Aktivistin Palina Sharenda-Panasyuk verbüßt deshalb bereits ihre vierte Haftstrafe in Folge – trotz einer chronischen Pankreatitis. Mindestens sieben politische Gefangene sind seit 2020 offiziell in Haft verstorben. An den Folgen von Misshandlung, unterlassener Hilfeleistung oder einfach aufgrund der unmenschlichen Haftbedingungen. So wie der 22-jährige Dmitry Shletgauer, der Anfang Oktober 2024 nach nur zwei Wochen im Straflager in Mogiliov starb. Damals berichteten ehemalige Insassen, dass Dmitry bei Weitem nicht der einzige Todesfall unter den „Politischen“ in diesem Lager war. Wir müssen also von Dutzenden Opfern in ganz Belarus ausgehen.

Sicher können Sie jetzt verstehen, wie unermesslich die Verzweiflung der Insassen und ihrer Angehörigen inzwischen ist. Wie groß der Wunsch, dass irgendjemand da draußen etwas unternimmt, um die Menschen vorzeitig freizubekommen. Aber was um alles in der Welt hat das nun mit Ihnen zu tun? Ich denke sehr viel. Zum einen, weil sich diese Tragödie mitten in Europa abspielt: tatsächlich erhebt die belarusische Stadt Polotsk Anspruch auf den Titel „geografischer Mittelpunkt Europas“. An diesem geografischen Mittelpunkt Europas befindet sich – kein Witz – das Straflager Nr. 1 der Republik Belarus. Es ist eines der berüchtigtsten im ganzen Land; dort wird unter anderem der aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat von 2020 gefangen gehalten – Viktar Babarika. Vor einer Woche haben wir nach mehr als 630 Tage das erste Lebenszeichen von ihm erhalten.

Es gibt aber auch eine historische Dimension dieses Unheils: denn das, was in Belarus heute passiert, ist das Szenario, das uns selbst erspart geblieben ist. Eine alternative Geschichte, sozusagen. Setzen Sie gedanklich Putin an die Stelle von Gorbatschow im Jahre 1989, und Sie werden verstehen, was bei uns passiert wäre. So aber wurde uns das historische Glück einer weitgehend Friedlichen Revolution zuteil. Vielleicht hätte es auch in Belarus anders kommen können. In ihrem Brief „an die Demonstrant*innen in Belarus“ forderten die ehemaligen Bürgerrechtler die Europäische Union auf, „deutliche Schritte der Diplomatie zu gehen und beschlossene Sanktionen umgehend wirksam werden zu lassen.“ Vielleicht hätten eine entschlossene Reaktion des Westens und zügig eingeführte und schmerzhafte Sanktionen das Regime tatsächlich dazu bringen können, sich mit dem demokratischen Koordinierungsrat an einen Runden Tisch zu setzen, um einen friedlichen Ausweg aus dieser schweren Krise zu finden. Vielleicht hätte dieser Schritt gar den Krieg gegen die Ukraine verhindern können. Denn Russland war für den Überfall auf die Ukraine auf Belarus als Aufmarschgebiet angewiesen.

Dreimal vielleicht. Wir wissen es nicht; es ist das Gebiet der historischen Spekulation.

Was wir aber wissen: Die erhofften Sanktionen kamen zu spät und zu zögerlich, ganz ähnlich wie bei Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. So halten wir keine Diktatoren auf, sondern machen sie im Zweifel nur noch stärker. Das Regime in Minsk hat sich längst auf die Sanktionen eingestellt. Sie sind unbequem, aber sicher nicht existenzbedrohend. Es gibt keine Hoffnung mehr auf einen schnellen Regimewechsel. Am Wochenende wird sich Lukaschenko zum siebten Mal im Amt bestätigen lassen.

Was uns bleibt, ist, die Menschen aus den Lagern von Belarus zu retten. Diese Aufgabe muss zur obersten diplomatischen Priorität werden – oder, wie es meine belarusischen Kolleg*innen sagen – Freilassungen müssen zum Mainstream werden. Sobald sich Politik und Diplomatie dieser Aufgabe ernsthaft annehmen, werden sie auch Wege finden, wie sie das erreichen können. Nur: sie sollten sich keine Zeit mehr damit lassen. Es wird nicht besser. Und es wird definitiv nicht einfacher. Die Zeit zum Handeln ist JETZT.

Meine Damen und Herren,

ich habe vom historischen Glück der Friedlichen Revolution von 1989 gesprochen. Vielleicht haben wir damals so etwas wie ein kollektives Ehrenbürgerrecht erlangt. Wie wir gehört haben, erwächst aus diesem Recht eine Verpflichtung – gerade heute, wo unser demokratisches Grundgerüst erzittert, durch Angriffe von außen und unverantwortlichen Populismus von innen. Es ist aber ebenso eine Verpflichtung gegenüber den Menschen in der Ukraine und den politischen Gefangenen in den Straflagern von Belarus. Und vergessen wir nicht: unser heutiger Beistand für diese Menschen wird nicht nur ihr Schicksal, sondern auch die Zukunft und Stabilität des gesamten europäischen Kontinents prägen. Wenn wir heute nicht handeln, sind die Geschehnisse in der Ukraine und in Belarus – Krieg und Diktatur – unser drohendes Morgen.

Liebe Gesine,

du hast über Jahrzehnte immer wieder gezeigt, was gelebte Verantwortung bedeutet. Und wie man im Kleinen wie im Großen gleichsam wirksam sein kann. Ich danke dir für all deinen Mut, deine Klarsicht, Beharrlichkeit und Solidarität, die nicht groß und laut daherkommen, sondern ruhig – aber bestimmt; und oft auch unbequem. Gut so! Jemand sagte über dich: „Gesine ist eine Frau mit einer ruhigen Stimme, aber einer klaren politischen Haltung.“ Und gleichzeitig bist du eine vehemente Verfechterin der Idee des Dialogs. Über das Jahr 1990 hast du gesagt: „Es war das Jahr der Aushandlungsprozesse und des Dialogs.“ Markus Meckel hatte es mit dem wunderbaren Wort der „Selbstdemokratisierung“ beschrieben. Diese Prozesse liefen auf ganz vielen Ebenen gleichzeitig – von der lokalen Ebene über den zentralen Runden Tisch, Opfer-Täter-Gespräche – die ein Grund waren, warum es damals nicht eskalierte – bis hin zu den 2+4-Gesprächen.“

Meine Damen und Herren, das ist eine ganz wichtige Erinnerung daran, wie wichtig der Dialog in schwierigen, ja explosiven Zeiten ist.

Liebe Gesine,

Du hast dich nie in den Vordergrund gedrängt, hast aber entscheidende Momente in dieser Stadt und unserem Land mitgeprägt. Wir haben es in der Rede des Oberbürgermeisters gehört: Dein Engagement endete nicht 1990, sondern setzt sich bis heute unermüdlich fort. Dass dir heute das Ehrenbürgerinnenrecht verliehen wird, ist die richtige Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt. Denn wann, wenn nicht heute, brauchen wir Menschen wie dich!

Ich gratuliere der Stadt Leipzig und dir, liebe Gesine, und zu diesem besonderen Tag!

Ich weiß, dass du dein Ehrenbürgerinnenrecht mit einer großen Verantwortung wahrnehmen wirst.

Und ich freue mich für und mit der Stadt Leipzig auf alles, was da noch kommt!

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