„Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.“
Dieser Vers aus dem 126. Psalm begleitete uns damals nach dem Mauerfall im Herbst ´89 in unseren Andachten und Gottesdiensten. Wir erinnerten uns an die Geschichte der Befreiung des Volkes Israel aus der Ägyptischen Gefangenschaft – der plötzliche Aufbruch, die Furcht vor den Soldaten, der wundersame Durchzug durch das Meer, die Bewahrung vor Gewalt und Blutvergießen. Und dann die Wüste. Die einen sehnen sich zurück nach den vermeintlichen Fleischtöpfen in Ägypten, die andern drängen nach vorne zu den versprochenen blühenden Landschaften.
Liebe Freunde und Freundinnen,
wir haben damals vor 35 Jahren etwas Einmaliges in der deutschen Geschichte erlebt. Ein gesellschaftlicher Umbruch, der nicht nur unser Land, sondern ganz Europa fundamental verändert hat – ohne Krieg und ohne Gewalt. Bis auf einige Ausnahmen wurde in den meisten osteuropäischen Ländern ein Blutvergießen verhindert. Dieses geschichtliche Ereignis hat sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Mit dem Ruf „Keine Gewalt“ und dem Mut zehntausender Menschen kam es am 9. Oktober 89 hier in Leipzig zur Wende.
Das Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ wurde zum Symbol der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR Anfang der 1980ziger Jahre, als die beiden feindlichen Blöcke, deren Trennlinie mitten durch Deutschland ging, auf beiden Seiten atomare Mittelstreckenraketen stationiert haben. Von den Politikern und Militärs wurde im Ernstfall die Existenz des je eigenen Landes und seiner Bevölkerung aufs Spiel gesetzt. Wir hatten damals kein Vertrauen mehr in die Sicherheitslogik des Militärs und der Staatsführung und brachen unser Schweigen, so wie das immer mehr Friedensbewegte in Ost und West auch taten. Gegen die Kriegslogik, die auf militärische Abschreckung setzte, suchten wir nach Alternativen und fanden diese im Verzicht auf Geist, Logik und Praxis der Abschreckung, wie das die Bundessynode der evangelischen Kirche 1982 in Halle formulierte.
Vertrauensbildende Maßnahmen, das Konzept der gemeinsamen Sicherheit von Olof Palme, die Entspannungspolitik von Willy Brandt, die Politik von Glasnost und Perestroika von Michael Gorbatschow, und die Beseitigung und Vernichtung der Mittelstreckenraketen durch die USA und die Sowjetunion gehörten zu den grundlegenden friedensfördernden Strategien, die der Friedlichen Revolution vorausgingen. Sie waren die geopolitischen Voraussetzungen für den friedlichen Wandel.
Von dem Stadtökumenekreis in Dresden ging Mitte der 1980ziger Jahre der Impuls einer ökumenischen Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung aus, der sich alle christlichen Kirchen in der DDR anschlossen und deren Texte im Frühjahr 1989 der Öffentlichkeit übergeben wurden.
In der theologischen Grundlegung heißt es:
„Der Weg des Friedens ist durch Gewaltfreiheit, Dienstbereitschaft und konfliktfähige Feindesliebe geprägt. (Mt 5,39ff Mk 10,42ff) Die Hoffnung auf eine gewaltfreie Friedensordnung, die sich im AT andeutet, wird durch Wort und Weg Jesu ins Zentrum gerückt und ist von der christlichen Gemeinde exemplarisch zu leben. (Mi 4,1-5 u. Mt 5,1-16) Das steht im scharfen Gegensatz zu dem Zwangs- und Gewaltfrieden des Römischen Reiches, dem Konzept der pax romana. Gerade in der heutigen Situation, wo um der Humanisierung politischer Macht willen Gewalt abgebaut werden muss, kommt dem gewaltfreien Friedensweg Jesu neue politische Bedeutung zu. (2.2.; 34)“
Die evangelische Kirche in der DDR hat damals den „Kairos“ – ihren geschichtlichen Auftrag – erkannt und ergriffen.
Ich möchte heute auf eine wichtige Erkenntnis eingehen, die wir damals gemacht haben: Freiheit, Demokratie und Menschenrechte können sich nur im Frieden und in Gerechtigkeit entfalten. Dieser Frieden ist heute wieder bedroht. Wieder sollen Mittelstreckenraketen in Deutschland stationiert werden und wertvolle Ressourcen, die wir für den sozialen Ausbau und für den Schutz der Umwelt benötigen, werden in die Aufrüstung investiert.
Auch die Stimme der Kirche wird wieder gebraucht. Ihr Auftrag ist, sich in dieser Welt für Versöhnung, Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen, d. h. sich an der Kernbotschaft Jesu zu orientieren. In der Bergpredigt heißt es, erst den Balken im eigenen Auge zu entfernen, bevor man den Splitter im Auge des andern beklagt. Das bedeutet, den Weg der Gewaltlosigkeit und der Gerechtigkeit zu gehen und die Feindesliebe zu verkünden und zu leben. Pazifisten – Friedensstifter – zu sein, ist der Auftrag der Kirche. Eine Kirche, die sich so versteht, enthält sich jeglicher Kriegspropaganda und Feindrhetorik
Die Stiftung Friedliche Revolution steht in dieser Tradition. Ihr Platz ist an der Seite all derer, die für Versöhnung, Frieden und Menschenrechte arbeiten – unabhängig von ihrer religiösen, kulturellen oder politischen Bindung. Unser Mitgefühl und unsere Solidarität gelten allen Opfern von Krieg, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. In all dem Stimmengewirr dieser Zeit orientieren wir uns an diesen Grundsätzen. Und das bedeutet ein unabhängiger Blick auf die Realität und ein eigenständiges Denken und Handeln.
Wir haben damals eine Friedliche Revolution erlebt und gestaltet. Das ist Geschenk und Auftrag zugleich. Das darf uns Hoffnung für die Zukunft geben.
Ruth Misselwitz
Leipzig, 6. Oktober 2024
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