Vom 6. bis 9. Oktober 2019 veranstaltete die Stiftung Friedliche Revolution aus Anlass des 30. Jahrestages der Friedlichen Revolution eine Konferenz „Internationaler Runder Tisch“ im Rahmen der „Revolutionale – Festival für Veränderung. Festival for Change“. Vertreter*innen von Freiheits- und Bürgerrechts- sowie Nichtregierungsorganisationen, unter ihnen Schriftsteller*innen, Journalist*innen, Politiker*innen, Aktivist*innen und Expert*innen aus 23 Ländern, führten einen lebhaften Austausch von Gedanken und Erfahrungen zu grundlegenden Fragen unserer demokratischen Kulturen und der Zukunft Europas. In Ergänzung fanden zwei öffentliche Thementage zur Pressefreiheit und über „Klima – Gerechtigkeit – Visionen“ statt.
In den Diskussionen über die Themen stellten wir fest und fordern:
Für eine zukunftsgewandte Erinnerungskultur: unabhängige, kritische historische Forschung und Aufarbeitung von Diktaturgeschichte
Gesellschaftliche Erinnerung muss vom Staat gefördert, darf aber nicht von ihm gesteuert werden. Staaten müssen einen gesellschaftlichen Diskurs zur Vergangenheit ermöglichen. Lehrpläne und Lehrkräfte müssen die produktive Beschäftigung mit der jüngeren Vergangenheit in den Schulen verankern. Aufarbeitung schließt neben der des Sozialismus und Kommunismus auch die des Kolonialismus ein. Für Ost- und Südosteuropa und speziell den Westbalkan ist diejenige des Balkankrieges essentiell, was zugleich einer stärker europäisch geprägten Erinnerungskultur dient. Erinnerungspolitik darf nicht dazu missbraucht werden, nationalistische Ressentiments zu schaffen bzw. zu stärken – im Gegenteil: Sie muss der Stärkung der Menschenrechte dienen!
Medienfreiheit, Pressefreiheit und investigativen Journalismus verteidigen!
Wir anerkennen die Pflicht einer und eines jeden Einzelnen, den Wahrheitsgehalt von Medieninformationen selbst streng zu prüfen. Wir erwarten gesellschaftliche Unterstützung des freien Journalismus. Wir brauchen weitreichende Bildungsprogramme zum individuellen Umgang mit digitalen Informationen. Gleichzeitig braucht unsere Demokratie als Gegengewicht zum virtuellen Raum konkrete lokale Kommunikationsräume. Von den nationalen und internationalen Institutionen erwarten wir einen verstärkten Einsatz zum Schutz der Journalisten und der Nutzer. Parallel zur internationalen Zusammenarbeit zum Schutz vor Terror und Kriminalität fordern wir die Entwicklung einer internationalen Zusammenarbeit für Informationssicherheit.
Korruption beenden, Lobbykontrolle stärken!
Lobbyismus muss gesetzlich geregelt und transparent gestaltet werden, sonst begünstigt er Korruption. Der Internationale Runde Tisch ist besorgt zu sehen, wie demokratische Institutionen durch Lobbyismus, Korruption und Vetternwirtschaft untergraben und missbraucht werden zur Durchsetzung privater, gegen das Gemeinwohl gerichteter Interessen. Durch Gesetze und Praxis müssen Bedingungen für größtmögliche Transparenz von Verwaltung und Gesetzgebung geschaffen werden. Dazu gehören insbesondere der Schutz freier, von politischen und privaten Einflüssen unabhängiger Medien, die diesen Missbrauch demokratischer Institutionen aufdecken, angemessene Möglichkeiten der direkten, demokratischen Kontrolle von politischen Entscheidungen durch die Zivilgesellschaft, die Förderung lokaler und regionaler Strukturen und Prozesse politischer Entscheidungen online und offline sowie ein wirksamer Schutz für Whistleblower, die oft große persönliche Risiken für das Gemeinwohl tragen. Wirksame Mittel im Kampf gegen Korruption sind zivilgesellschaftliche und politische Bildung, das Blacklisting korrupter Unternehmen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge sowie die Stärkung von Anti-Korruptions-Behörden.
Friedens- und Antigewaltarbeit
Die Welt befindet sich in großer Unsicherheit. Kriege und bewaffnete Konflikte mit all ihren Folgen erzeugen eine tiefe Verunsicherung in unseren Gesellschaften. Wir fordern den Einsatz für die Stärkung internationaler friedenssichernder Institutionen und die Rückkehr zu einer konsequenten Friedenspolitik. Zivilgesellschaftliche Organisationen zur Aufdeckung von Menschenrechtsverletzungen und zu Anti-Konfliktarbeit müssen gestärkt werden. Wir fordern auf, in allen Bereichen der Gesellschaft die Demokratie auf friedliche und entschlossene Weise zum Thema zu machen, demokratische Prozesse früh einzuüben, der Verrohung der Sprache im öffentlichen und privaten Leben respektvolle Umgangsformen entgegenzusetzen sowie Strukturen der Gewalt, die zur Exklusion führen, um der Demokratie und des Friedens willen zu bekämpfen.
Klimawandel und verantwortungsvolle Ressourcenpolitik
Der Klimawandel bedroht die Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit. Uns bleiben wenige Jahre Zeit, um irreversible Schäden zu verhindern. Wir fordern die politischen Entscheidungs-träger*innen auf, mit Hochdruck den strukturellen Wandel der Weltwirtschaft voranzutreiben hin zu einem sozial gerechten und ressourcengenerierenden globalen Wirtschafts- und Handelssystem. Ein nicht-wachstumorientiertes Wirtschaften muss dem herrschenden Wirtschaftssystem entgegen gestellt werden. Gleichzeitig müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, um jede und jeden Einzelnen von der Notwendigkeit eines klimagerechten Lebens zu überzeugen, denn das Handeln jeder und jedes Einzelnen hat Auswirkungen auf die gesamte Menschheit. Wir benötigen die Vision einer klimagerechten Welt. So wie die Friedliche Revolution vor 30 Jahren sollte die Klimabewegung die Kraft besitzen, ein ganzes System zu überwinden. Die Vernetzung zivilgesellschaftlicher Akteur*innen in der ganzen Welt ist die Plattform, die dies erreichen kann. Globales Handeln ist dringend zu unterstützen!
Frauen- und LGBTQI*rechte – eine eigenständige Aufgabe im Kontext der Menschenrechtsbewegung
Wir sehen mit großer Sorge die sexistische, homophobe und transphobe Diskriminierung von LGBTQI*-Personen im alltäglichen Umgang, aber auch in öffentlichen Institutionen: in Schulen, bei der Polizei, in Krankenhäusern und Justizvollzugsanstalten. Wir fordern die schnelle, systematische Sensibilisierung und Qualifizierung der betreffenden Akteur*innen zum respektvollen, nicht diskriminierenden Umgang mit LGBTQI*. Pflichttherapien und ärztliche Begutachtungen von Trans*Personen, wie das deutsche Transsexuellengesetz sie vorschreibt, sind diskriminierend und entwürdigend und müssen abgeschafft werden. Wir fordern Strategien zur vollen Gleichstellung und Anerkennung der LGBTQI*-Personen: einen Weckruf in alle Bereiche der Gesellschaft, das Bewusstsein für diese Aufgabe zu schärfen.
Demokratie-Ressentiments als Folge sozialen „Abgehängtseins“
Aktive Beteiligung in der Demokratie braucht Betroffenheit, Bewusstsein und die Aussicht auf Erfolgserlebnisse. Dazu müssen u.a. Mechanismen und Formate direkter Demokratie ausgebaut werden, in erster Linie auf lokaler Ebene. Wir fordern Bildungsprogramme, die Anreize für die Rolle aktiven bürgerschaftlichen Engagements schaffen. Dies bedeutet Inklusion, die Auseinandersetzung mit lokalen Problemen und die Einbeziehung von Themen wie Umweltschutz, Friedenssicherung und Medienfreiheit als zivilgesellschaftliche Kernwerte. Politik ist nicht alternativlos. Demokratie heißt auch, zwischen unterschiedlichen Wegen wählen zu können. Die politischen Parteien müssen im Rahmen demokratischer Kultur Alternativen zueinander entwickeln. Wir fordern Anreize für die Kooperation zwischen nationalen Regierungen und lokalen Gemeinschaften, um Bewusstsein für die obengenannten Themen zu schaffen. Die Regierungen in Ungarn, Polen, Bulgarien, der Türkei und anderen Ländern werden aufgefordert, sich gegen antidemokratische und antieuropäische Attacken zur Wehr zu setzen, darunter Bestrebungen, Institutionen des Helsinki-Komitees und anderer NGOs in Bulgarien zu schließen.
Auswirkungen staatlicher Überwachung und Totalitarismus
Durch die Digitalisierung sind Möglichkeiten der systematischen Überwachung durch Staaten und Unternehmen exponentiell gewachsen. Wir fordern, dass staatlichen Stellen die Erhebung von Massendaten dauerhaft verwehrt wird, dass Politik und öffentliche Verwaltung aufhören, die öffentliche Sicherheit gegen Grundrechte auszuspielen, dass jenseits der zuständigen Aufsichtsbehörden eine unabhängige Institution geschaffen wird, die den Schutz der Grundrechte an personenbezogenen Daten kontrolliert, sowie dass internationale Unternehmen, die in Europa aktiv sind, auch für ihre Aktivitäten außerhalb Europas auf das europäische Daten-schutzrecht wirksam verpflichtet werden. Demokratie lebt von Kritik und politischem Engagement. Die Geheimdienste müssen so kontrolliert werden, dass engagierte Bürger*innen keine Angst vor Überwachung haben müssen.
Leipzig, den 9. Oktober 2019
Stiftung Friedliche Revolution
Nikolaikirchhof 3
04109 Leipzig
für Demokratie, eine offene Zivilgesellschaft
& ein friedliches Miteinander
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